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Agatha Christies Alibi

drsilkenowak

Aktualisiert: 6. Juni 2022




Es gibt Krimis, die ich liebe, weil sie sprachlich meisterhaft geschrieben sind. Andere bringen einen weiter, weil sie eine tiefe Wahrheit über die menschliche Natur und Kultur enthüllen. Wenn beides zusammenkommt, wie zum Beispiel in Friedrich Dürrenmatts Der Richter und sein Henker oder in Umberto Eccos Der Name der Rose, wird die Lektüre zu einem Genuss. Krimis dieser Art werden gerade von Geisteswissenschaftler:innen wie mir geliebt, weil sie ein intellektuelles Spielfeld für den philosophisch geschulten Geist eröffnen.

Und dann gibt es noch Krimis, die weder sprachlich noch intellektuell durchgearbeitet sind. Die aber einfach nur genial sind. Dazu gehört Agatha Christies Alibi von 1926, im Originaltitel The Murder of Roger Ackroyd. Er ist einer meiner absoluten Lieblingskrimis, zumal die sprachliche Eile nicht mit mangelndem Talent zu tun hat, sondern dem Zeitdruck geschuldet war, unter dem Christie oft geschrieben hat.

Christies Alibi führt uns zu einer Erkenntnis, die für die Aufklärung jedes Verbrechens essentiell ist. Im Grunde wissen wir es alle, doch wir vergessen es einfach immer wieder. So erschüttert uns diese Erkenntnis immer wieder.

Worum geht es? Meisterdetektiv Hercule Poirot kommt von London aufs Land in das fiktive Dorf King’s Abbott, wo er Kürbisse züchten will. Halloween lässt grüßen. Dort trifft er den Arzt Dr. James Sheppart, der zu seinem Assistenten wird. Dieser sympathische Doktor ist es, der uns die Geschichte des Verbrechens erzählt: Die reiche Witwe Mrs. Ferrars ist gestorben. Im Dorf geht das Gerücht, ihr Tod sei ein Selbstmord gewesen, weil sie zuvor ihren Gatten umgebracht habe. Nach dem Tod ihres Mannes hatte sich Mrs. Ferras mit Roger Ackroyd verlobt, ebenfalls Witwer, der nicht an ihren Selbstmord glaubt. Ackroyd wollte Ferrars heiraten und ist tief bestürzt über ihren Tod. Doch dann wird auch Roger Ackroyd ermordet. Doktor Sheppart erzählt uns alles ganz genau, er rekonstruiert akribisch die Umstände von Ackroyds Tod, den er als Arzt selbst untersucht hat, wobei er als Ich-Erzähler genau mit der richtigen Mischung aus Empathie und Besonnenheit vorgeht. Doktor Sheppart macht uns verschiedene Menschen verdächtig, zum Beispiel die neurotische und verschuldete Schwägerin von Ackroyd, den Großwildjäger Major Blunt, Ackroyds Sekretär, Ackroyds Stiefsohn oder das Hausmädchen. Doch der Meisterdetektiv Hercule Poirot kann alle Verdächtige freisprechen. Aber irgendjemand muss Ackroyd doch umgebracht haben. Das Ganze bleibt rätselhaft, irgendetwas muss übersehen worden sein.

Wenn sie den Krimi noch lesen wollen, dann sollten sie jetzt weghören. Also jetzt. Denn der Roman endet mit einer – 1926 erstmals von Christie im Krimi eingeführten – ungeheuren Wendung. Am Ende entpuppt sich Doktor Sheppard, der sympathische Ich-Erzähler, selbst als Mörder. Er war es, der die reiche Witwe erpresst hat. Ihr Verlobter Ackroyd musste sterben, weil er Sheppard auf die Schliche gekommen war. Bevor Hercule Poirot seinen Assistenten entlarvt, kündigt Doktor Sheppard seinen Selbstmord an.

Mit Alibi macht uns Christie auf einfache und nachdrückliche Weise bewusst, was wir so gerne vergessen. Wir werden blind gegenüber der Wahrheit, wenn wir die Quelle nicht betrachten. Wenn wir von Menschen oder anderen Medien, die gesellschaftlich als Vertrauensträger verbürgt sind, eine Geschichte erzählt bekommen, vergessen wir so gerne, dass derjenige, der die Geschichte erzählt, bewusst oder unbewusst eine bestimmte Absicht damit verfolgt. Obwohl wir es eigentlich besser wissen, lullen uns die Geschichten des Mannes mit der tiefen, sympathischen Stimme ein wie die Gutenachtgeschichten aus unserer Kindheit. Doktor Sheppard trägt eine weiße Weste, er ist „eigentlich“ ein Guter, der sich bereits von Berufswegen dem Wohl der Menschheit verschrieben hat, und diese Erzählperspektive ist sein Alibi.

Bevor wir es beim nächsten Mal also wieder vergessen: Wenn uns jemand von den Lastern und Verfehlungen der anderen erzählt, die er uns mit seinen Geschichten verdächtigt macht, dann sollten wir, bevor wir den ersten Stein werfen, fragen: Was verschweigt derjenige, der die Geschichte erzählt? Denn die Antwort kann lauten: Das eigene Verbrechen.

 
 
 

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